Langsam sinkt die beeindruckende Lanze ins Eis. Mit ihren kunstvoll verschraubten Kupferplatten erinnert sie an ein wissenschaftliches Instrument nach Jules Verne. Sie ist an einer riesigen Anlage mit heulenden Dieselmotoren befestigt, die eine langsame, primitive Kraft ausstrahlt. Vielleicht genau die Art von primitiver Kraft und Geduld, die man braucht, um 100 m dickes Schelfeis zu schmelzen. Wir befinden uns in der Antarktis auf dem Ekström-Schelfeis und schmelzen Löcher, um unser passives akustisches Observatorium nach einer zweijährigen Datenpause aufgrund eines Schelfeisabbruchs im Februar 2022 endlich wieder in Betrieb zu nehmen.
Bei der primitiven Maschine handelt es sich um eine Heißwasser-Bohranlage aus den frühen achtziger Jahren, die seinerzeit von AWI-Glaziologen gebaut wurde. Wir hatten Glück, dass sie dieses Jahr für uns arbeiten konnte, denn es könnte ihr letzter Einsatz sein, da nur noch vier von sechs Motoren zuverlässig arbeiten. Wir hatten auch das Glück, zwei fantastische Techniker zu finden, die bereit waren, mit uns zu kommen und die Maschine zu bedienen, denn es gibt nur wenige Leute, die wissen, wie man dieses Monstergerät zähmt.
Bevor der Schmelzvorgang beginnt und die Motoren aufheulen, liegt eine aufgeregte Spannung in der Luft: Alles bereit, sind alle bereit? Die Löcher, die wir schmelzen, ermöglichen uns den Zugang zu dem Wasserkörper unter dem Schelfeis. Unser erstes Hydrophon befindet sich 1 km von der Schelfeiskante entfernt und wird die Unterwassergeräuschkulisse des umgebenden offenen Ozeans aufzeichnen. Gleichzeitig schirmt die vorspringende Eisplatte das Hydrophon vor dem intensiven Eisbergverkehr in den angrenzenden Küstengewässern ab, der sonst unseren Sensor beschädigen würde.
Das Hydrophonkabel verlässt das Eis und mündet in eine Aluminiumbox, die mit schweren Autobatterien für die Stromversorgung der Anlage gefüllt ist und nur wenig Platz für ein akustisches Aufnahmemodul und einen Verstärker lässt, die zusammen den Hydrophoninput auf eine Reihe von SD-Karten speichern. Die Box ist in einem Schneeschacht neben der Stelle vergraben, an der das Kabel aus dem Eis austritt, und wird nur alle drei Monate von den Überwinterern der Neumayer-III-Basis erreicht, um die SD-Karten und Batterien auszutauschen. Einen Kilometer weiter südlich kommt ein weiteres Hydrophonkabel aus dem Eis, noch einen Kilometer weiter südlich ein drittes. Bei diesen beiden handelt es sich um unsere Ersatzhydrophone, die wir ebenfalls in dieser Saison installiert haben. Sie sind nicht angeschlossen und befinden sich noch im “Ruhezustand” und dienen als Folgesensoren, sobald der Abstand zur Schelfeiskante kritisch wird. Da das Schelfeis eigentlich der Rand eines großen Gletschers ist, schiebt sich das ganze System mit ca. 150 Metern pro Jahr in Richtung Ozean, wo hin und wieder große Stücke abbrechen und als Eisberge abdriften. Die Aluminiumbox lässt sich leicht abkoppeln und bei Bedarf zum nächsten Sensor umstecken, so dass der Hardwareverlust (und die wissenschaftliche Verschwendung) auf das Hydrophon beschränkt werden kann.
>> Es ist nicht nur ein wissenschaftlicher Schatz, sondern auch von atemberaubender akustischer Schönheit. Es ist mein Lieblingsort auf der Erde, und es bewegt mich, dass ich diese vertraute Klanglandschaft jetzt wieder hören kann. <<
Ilse van Opzeeland
In den Tagen nach der Schmelze schließen sich langsam die Löcher um unsere Kabel, mit denen unsere Aufnahmen an Qualität gewinnen. Nach einem verrauschten Start scheinen sich die Daten zu beruhigen und eine vertraute Geräuschkulisse taucht wieder auf; PALAOA ist wieder online. PALAOA steht für PerenniAL Acoustic Observatory in the Antarctic Ocean. Wir sammeln hier seit 2006 Daten, und es ist einer der Orte mit der höchsten akustischen Artenvielfalt, mit zehn Meeressäugerarten, die zuverlässig während ihrer eigenen saisonalen akustischen Fenster erfasst werden. Es ist nicht nur ein wissenschaftlicher Schatz, sondern auch von atemberaubender akustischer Schönheit. Es ist mein Lieblingsort auf der Erde, und es bewegt mich, dass ich diese vertraute Klanglandschaft jetzt wieder hören kann. Die Klanglandschaft ist wie ein Klangort, an dem ich so viel Zeit damit verbracht habe, die verschiedenen Klänge zu hören, zu zählen, zu beschreiben und zu kategorisieren, aus denen sie sich zusammensetzt. Über die Kopfhörer, die provisorisch mit dem Hydrophon verbunden sind, hören wir Ross-Robben, Eisberge und das Kalben von Gletschern, das Prickeln des schmelzenden Meereises und ab und zu das tieffrequente Wobbeln eines antarktischen Blauwals. Eine akustische Heimkehr fern der Heimat.
Vielen Dank an Oliver Roempler, Lukas Wilke und Elke Burkhardt.