Vom ganz Kleinen zum großen Ganzen: Eine neue Ära der Mikrobiologie

Image: Charlotte Hintzmann

Ein Review über die Forschung an und mit Mikroorganismen und ihre Errungenschaften der letzten Jahrzehnte

Mikroben waren die meiste Zeit in der Geschichte unseres Planeten die einzige Lebensform auf der Erde. Auch heute noch stellen sie den Großteil der Arten und sind lebenswichtig für die Gesundheit unseres Planeten: Sie produzieren einen Großteil unseres Sauerstoffs, unterstützen Pflanzen beim Wachsen, halten biogeochemische Zyklen aufrecht und erhalten so unsere Ökosysteme. Murat Eren, Forscher am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), am Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität an der Universität Oldenburg (HIFMB), am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie (MPIMM) und an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg hat nun gemeinsam mit seiner Kollegin Jillian Banfield von der Universität Berkeley in der Zeitschrift Cell beschrieben, welche erstaunlichen Fortschritte die Mikrobiologie in den letzten Jahrzehnten erreicht hat.

Die Mikrobiologie untersucht Mikroorganismen, ihre Ökologie und Evolution, ihre Interaktionen mit ihrer Umwelt, untereinander und mit größeren Organismen. Seit der Entdeckung von Mikroben in den 1670er Jahren hat sie in ihrer relativ kurzen Geschichte bemerkenswerte Fortschritte gemacht: Von einfachen, aber entscheidenden Beobachtungen, wie das Händewaschen die Sterblichkeitsrate von Patienten in Krankenhäusern senkt, bis hin zu Genom-Editing-Technologien, die mikrobielle Enzyme zur Behandlung menschlicher Krankheiten nutzen – in weniger als 200 Jahren. Zum 50-jährigen Jubiläum der Fachzeitschrift Cell haben Murat Eren, Forscher am AWI, HIFMB, MPIMM sowie an der Universität Oldenburg, und Jillian Banfield von der Universität Berkeley einen umfassenden Review geschrieben, der diese Bemühungen sowie die Ankunft und Auswirkungen der modernen Ära der Mikrobiologie zusammenfasst.

„Wir kratzen wahrscheinlich gerade erst an der Oberfläche der großen biotechnologischen und medizinischen Fortschritte, die die Erforschung des mikrobiellen Lebens ermöglicht“, sagt A. Murat Eren. „Unser Review gibt Einblicke auf die rasanten Fortschritte der Mikrobiologie und zeigt die Tragweite der Forschung der letzten Jahrzehnte auf. Er regt dazu an, unsere Sichtweise auf die kleinsten Bestandteile des Lebens zu ändern und zu erkennen, dass neue Lösungen, um globale Herausforderungen zu bewältigen, in hohem Maße von unserem Verständnis von Mikroben abhängen.“ Diese gehen Mikrobiologinnen und Mikrobiologen bereits in verschiedenen Bereichen an: von der Suche nach neuartigen Antibiotika und wirksameren Impfstoffen über mikrobielle Enzyme zum Abbau von Plastik und zur biologischen Sanierung unserer verschmutzten Umwelt, bis hin zur Bearbeitung des menschlichen Genoms, um die Belastung durch Erbkrankheiten zu verringern, oder von Pflanzengenomen, um Pflanzen resistenter gegen die Folgen des Klimawandels zu machen. „Und das ist genau der Punkt, an dem eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Disziplinen unerlässlich ist. Institutionen, die Disziplinen wie Molekularbiologie, Ökologie, Mathematik, Informatik, Physik und Chemie verbinden, um Mikroben in großem Maßstab zu untersuchen, sind gut positioniert, um durch intellektuelle und technische Durchbrüche etwas zu bewirken.“

Die rasante Entwicklung von Sequenzern, Massenspektrometern und Bildgebungsplattformen führt heute zu enorm großen und komplexen Datensätzen aus natürlichen mikrobiellen Systemen. Hier bieten computergestützte Ansätze der Mikrobiologie neue Möglichkeiten, natürlichen Lebensräume im Auge zu behalten, da sie sich ebenfalls ständig weiterentwickeln, wie die jüngsten Entwicklungen im Bereich des Deep Learning und der künstlichen Intelligenz zeigen. „Unsere Umwelt verändert sich ständig und unser Überleben hängt von unserer Fähigkeit ab, mit diesen Veränderungen Schritt zu halten. Mikroben können sehr schnell auf diese reagieren. Wenn wir verstehen, wie sie das tun, können wir viel über unsere Umwelt selbst lernen“, sagt A. Murat Eren. Hierfür müssten wir uns jedoch sehr stark auf computergestützte Berechnungen verlassen: Sie können Informationen aus heterogenen Datentypen übersetzen und die Suche in großen Datenbanken mit Millionen von Beobachtungen erleichtern. Dadurch sind Rechenansätze in der Mikrobiologie genauso wichtig und zentral geworden wie molekulare Ansätze. Diese neue und stark datengesteuerte Ära erhöht jedoch auch die Komplexität der Forschung – etwas, dass auch in der Ausbildung und der Forschungsfinanzierung berücksichtigt werden muss.

„Für uns ist die Mikrobiologie wohl eine der wichtigsten Wissenschaften in der Mitte des 21. Jahrhunderts, mit ihrem Ziel mikrobielles Leben zu verstehen und ihrem Potenzial, Mikroben zur Lösung unserer dringendsten Probleme durch Fortschritte in der Biotechnologie und Biomedizin zu nutzen“, schließt A. Murat Eren. Er erkennt aber auch an, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer noch dabei seien, zu lernen, wie sie riesige Datenmengen nutzen können, um noch unverstandene Prozesse in natürlichen Ökosystemen mit integrativen, interdisziplinären und skalierbaren Mitteln zu lösen.

Originalpublikation A. Murat Eren, Jillian F. Banfield: Modern microbiology: embracing complexity through integration across scales, Cell (2024). DOI: https://doi.org/10.1016/j.cell.2024.08.028

Sarah Werner (AWI)

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